Eine Geschichte zum Nachdenken: Leon, der Maler (Teil I)

Überblick

Wie alle anderen Menschen, wurde auch Leon als Maler geboren. Wie so viele, wollte er nie einer sein. Obwohl er nun schon seit Jahren täglich malt, bleiben seine Gemälde ziemlich hässlich.

Na und? Wieder ein hungernder Künstler mehr, wirst du dir denken.

Doch die Gemälde sind nicht zum Aufhängen und stehen nicht zum Verkauf. Sie werden zum Teil seines Lebens – zu seiner Identität.

Und so sitzt er wieder vor der weißen Leinwand. Er nimmt den strubbligen Pinsel und mischt schwarz mit grau.

Er starrt auf die Stelle der Leinwand, wo er ansetzen möchte. Er presst den Pinsel auf das Papier und malt ein Quadrat und setzt ein Dreieck oben drauf.

Daneben ein schwarzes dürres Strichmännchen.

Das wars…

Er stellt das Bild zu den hundert anderen, die sich in der Wohnung stapeln. Tag für Tag malt er ähnlich hässliche Bilder. Ein Haus, mehr aus Lego, als aus Leben. Hin und wieder der Ansatz von einem Hund, der wie eine Steppenhexe mal links, mal rechts auf dem Bild herumgeistert.

Eine Partnerin hat er am Anfang versucht zu malen, doch sie war stets unförmig und hatte das Lächeln eines Serien-Killer-Clowns.

Irgendwie schafft er es nicht, etwas Schönes zu malen. Etwas das er wirklich möchte und ihm einen Hauch von Glück bringen würde. Er kann sich einfach nicht als glücklichen Menschen vorstellen.

Seine innere Stimme lässt es nicht zu

Du hast es noch nicht verdient, glücklich zu sein. Aber irgendwann wirst du mal was.

Sie vertröstet ihn seit Jahren. Dabei klingt sie nicht mal gemein, sondern hört sich an, wie eine Mutter deren Herz es zerreisst, weil sie ihrer sechsjährigen Tochter sagen muss, dass es den Weihnachtsmann in Wirklichkeit nicht gibt und sie dieses Jahr zu wenig Geld haben um Geschenke zu kaufen, weil die Krebsbehandlung von Papa zu viel kostet.

Und so lebt er in der Realität, die seine Bilder vorgeben. Allein, in einer heruntergekommenen Wohnung in Berlin. Das Mondlicht dringt nur schwach durch das kleine Fenster. Der kühle Herbstwind dafür umso stärker. Ihn überkommt ein Schauern, wenn er an die folgenden kühlen Monate denkt.

Seine innere Stimme hat mit ihren dunklen Zukunftsprognosen recht. Der Ponyhof ist mit Hochsicherheitszäunen und Bewegungsmeldern gesichert und Realisten müssen draußen bleiben.

Warum leben manche so aufregende Leben, reisen, lieben, genießen und er vegetiert in dieser Bruchbude?

Er legt das Bild zur Seite und sich ins Bett. Müde schließt er die Augen. Wie lange soll es noch so weitergehen? Ist das sein Schicksal?

Viele seiner damaligen Klassenkameraden sind kreativ, explosiv und aufständisch (er kann ihre täglichen Erfolge im Internet verfolgen). Sein Leben ist dagegen borstig, grau und langweilig wie trocknende Farbe.

Bilder steigen in ihm auf, wie er bis ins hohe Alter im Restaurant schuften muss. Wie seine Haut labberig wird; die Tränensäcke erst blau, dann schwarz. Gekrümmter Rücken, gestützt vom Spazierstock. Sein Grab verlassen und blumenlos.

Genervt steht er auf und holt sich ein Wasser aus der Küchenzeile.

Der Blick zu den Sternen

Während er trinkt, beobachtet er die Sterne durch das kleine Küchenfenster. Wie schön sie doch sind. Welche Strahlen von ihnen ausgehen. Welcher Maler wohl dahinter steckt?

Er macht etwas, woran er nicht glaubt, nicht versteht, was uncool geworden ist: Er faltet seine Hände, blickt zu den Sternen und betet. „Kannst du mir bitte helfen? Ich sehe doch welche Schönheit möglich ist. Gewähr ihr bitte Einlass in mein Leben. Ich will nicht mehr wachliegen wegen Bildern, die mir Angst bereiten.“

Nichts bewegt sich. Kein Licht erstrahlt. Keine tiefe Stimme zu hören. Die Sterne sind zu weit weg, um Leons Flüstern wahrzunehmen.

Traurig, aber nicht enttäuscht, begibt er sich wieder ins Bett. Nur noch ein paar Stunden bis das Rad des Alltags sich wieder zu drehen beginnt.

Am nächsten Morgen wacht er bereits gerädert auf. In der U-Bahn hängen die Leute schweren Gedanken nach. Es ist zu früh am Morgen und zu spät für Nettigkeiten.

Nach einem kurzen Fußmarsch steht er im Restaurant. Die Köche sind schon mit den Vorbereitungen beschäftigt. „Wir arbeiten nicht, wir dienen“ steht über der Tür, die zu den Gästen führt.

Er legt sich die Kellnerschürze mit dem Logo vom “Restaurant zum Leben” an. Mit dem Notizblock bewaffnet macht er seine Runde.

Hi Karl, was darf es heute sein?

Also Eier vertrage ich gar nicht in der Früh. Bitte nichts mit Eiern.

„Jetzt fängt der schon wieder damit an“ denkt sich Leon. „Da gehe ich lieber zu dem Cowboy

Das Restaurant ist gut besucht und Leon hat viel zu tun. In der Mittagspause setzt er sich in ein Café am Ende der Straße. Die Stille, die Wärme des Kaffees und eine Zigarette bilden seine heiligen zwanzig Minuten.

Die Frau, die sein Leben verändert

Dabei fällt ihm eine alte Frau auf, die ihn unentwegt anlächelt. An seinem Aussehen kann es nicht liegen. Pechschwarze Haare, spitz zulaufende Nase, vereinzelte Bartstoppeln. Er lächelt höflich zurück und hofft, dass sie ihn in Ruhe lässt.

Jedoch haben die vielen Jahre als Kellner sein peripheres Sichtfeld erweitert. Sie starrt immer noch!

Sie macht ihm seine heiligen zwanzig Minuten kaputt! Er wendet sich zu ihr und wirft ihr einen Blick zu, den Berliner aus dem FF können: der Willst-du-Stress-Blick.

Sie pariert mit dem Sohn-ich-sehe-dass-du-leidest-Blick.

Er hat solch eine Güte in einem Gesicht schon lange nicht mehr gesehen. Seine Eltern hat er früh verloren. “Was solls.” Er drückt seine Zigarette aus. Die Heiligkeit ist eh schon verflogen.

Noch bevor Leon sich zu der Dame setzt, sagt sie: „Zeig mir dein Bild.“ Sein Hintern verweilt fünf Zentimeter über dem Sitz. Noch ist die Gelegenheit umzukehren und eine weitere Zigarette zu rauchen. „Bitte.“ Sie schaut ihn wieder so mitfühlend an.

Niemand hat ihn je nach seinem Bild gefragt. Aus der Innenseite seiner Jacke holt er sein zusammengefaltetes Bild heraus. Jeder Maler trägt sein Bild immer und überall mit sich.

Mit einem Seufzer überreicht er das Bild.

Ich sehe ein Quadrat und ein Dreieck. Daneben einen dürren Mann.“ Pause. „Du möchtest Mathematiklehrer werden?“ Sie kichert.

Leon steht auf und reißt ihr das Bild aus den Händen. Er wusste, dass es ein Fehler war.

Darling, es war nur ein Spaß. Geh’ nicht. Mir gefallen die Berge, die du gemalt hast

Ich habe keine Berge gemalt. Sie müssen sich stärkere Brillengläser zulegen.

Nein, mein Sohn. Ich sehe sie doch. Genau dort.

Sie zeigt auf seine Initialen unten rechts im Bild.

Das ist mein Name.

Beginnt dein Name mit einem ‚M‘“?

Verwirrt schaut er auf die untere Ecke. Sie hat recht. Diese Schnörkel haben nichts mit seinem Namen zu tun. Es sind ganz feine Berge zu sehen.

Leon schaut sie überrascht an. Sie erwidert daraufhin trocken:

Deine Wünsche sollten immer in der Mitte des Bildes stehen. Mit strahlenden Farben, getränkt in Freude und Zuversicht. Nicht unscheinbar am Rand, wie es bei so vielen Bildern zu sehen ist.

Aus ihrer Handtasche zückt sie Farben und Pinsel.

Hör auf das zu malen, was von dir erwartet wird. Mal das, was du wirklich willst.

Sie streckt ihm ihren Lieblingspinsel entgegen.

Wer ist diese Frau? Warum hilft sie mir?”, denkt Leon. Die Meisten interessieren sich nicht für ihn oder sein Bild.

Vielleicht liegt es genau daran, dass er den Pinsel entgegen nimmt und ihn in der Mitte des Bildes aufsetzt.

Er malt Berge mit weißen Spitzen. Sie sind etwas unförmig und es fehlt ihnen an Details, jedoch nickt die Dame zufrieden.

Es wird von Mal zu Mal besser werden. Der Nebel wird sich lichten und deine Berge werden strahlen. Glaube mir: Du hast einen wichtigen Schritt getan.

Nur wenige trauen sich, in sich hineinzuhorchen und ihre innere Melodie in ein Bild zu formen. Doch wenn es erstmal gemalt ist, gibt es kein zurück mehr. Ohne es zu wissen, hat Leon einen Staudamm gebrochen und wird von den Fluten mitgerissen.

Leon fühlt sich zurecht überrumpelt. Was bedeuten diese Berge? Waren sie schon immer in ihm? Er muss nach Hause und die restlichen Bilder sehen und seine Unterschrift näher betrachten.

Danke.” stottert er. Mit dem Blick auf die Wanduhr sagt er, „Ich muss zurück ins RestaurantKommen Sie jederzeit vorbei. Ich gebe Ihnen einen Tee aus.

Vielen Dank. Vom ’Restaurant zum Leben’ habe ich schon gehört. Ein magischer Ort.“ Sie zwinkert ihm zu.

Ein Bild, das er nie vergessen wird

Er wirft seine Jacke über den Arm und geht einen Schritt Richtung Ausgang. Seine Neugierde lässt ihn inne halten und umdrehen. „Würden Sie mir Ihr Bild zeigen?

Sie ist nicht überrascht. Dennoch zögert sie einen Augenblick. Schließlich räumt sie die Teetasse zur Seite und legt ihr Bild auf den Tisch.

Es ist weiß.

Leon schaut sie fragend an. Ihre Augen glänzen. „Wenn du älter wirst, werden deine Bilder transparenter. Bis sie eines Tages nur noch einen Wunsch darstellen: Die Verschmelzung mit dem Nichts.

Sie macht eine Pause und mit einem Wimpernschlag ändert sich das Glänzen in ihren Augen zu einem durchdringenden Funkeln.

Allerdings sterben manche innerlich schon mit dreißig. Ihre Bilder verblassen, weil sie ihnen nicht folgen. Das darfst du nie zulassen! Folge dem Ruf dieser Berge.

Sie erhöht den Druck auf Leon noch mehr, indem sie sagt: „Es gibt nur eine Sache, die alte Menschen bereuen. Sie wünschen sich alle, dass sie mehr Risiken eingegangen wären“

Mit einem Nicken bedankt er sich bei ihr und verlässt das Café.

Die alte Dame schaut Leon hinterher.

Ihr weißes Bild liegt noch vor ihr. Daneben ihr Pinsel, der Leon zu einem Abenteuer führen wird.

Sie nimmt ihn, hält kurz inne – bewusst, dass auch sie mit dem nächsten Pinselstrich ein neues Kapitel in ihrem Leben einläuten wird. Sie malt Menschen, die sich an den Händen halten und zum Licht in der Mitte schauen.

Sie fühlt eine Stärke und Freude in der Brust, die sie seit dem Tod ihres Mannes vermisst. Bevor sie ihm folgt, hat sie noch was zu tun. Sie lächelt zufrieden, winkt die junge Bedienung zu sich und bietet ihr den Platz gegenüber an.

Mein Kind, erzähl mir von deinem Bild.“

Leon ist derweil im Restaurant angekommen und entschuldigt sich bei seinem Kellnerkollegen, Patrick, für seine Unpünktlichkeit. Dieser wischt seine Entschuldigung aus der Luft. „Kein Problem, heute ist nicht viel los. Aber du wirst nicht glauben, was passiert ist… Karl hat etwas bestellt, was er wirklich möchte!

Heute ist wahrlich ein merkwürdiger Tag”, denkt Leon.

Etwas unsicher fragt er: „Ist es in Ordnung, wenn ich etwas früher nach Hause gehe… Ich möchte an meinem Bild malen.

Patrick legt seine Stirn in Falten.

Er kennt allerhand Ausreden. Von Tollwut bis zum Tod, von gerade erst entdeckten, aber sogleich ins Herz geschlossenen Verwandten. Das jemand nach Hause gehen möchte, um an seinem Bild zu malen, hat er noch nie gehört.

Patrick fühlt sich ertappt. Wie lange hat er sein Bild bereits vernachlässigt?

Er fischt es aus der Hosentasche und betrachtet es. Es zeigt ein Segelboot. Die Weite des Meeres. Ein paar Seemöwen umkreisen ihn. Es ist verwischt und besuhlt von Speiseresten.

Egal, was Leon malt, so soll es nie aussehen. „Ja, du kannst gehen. Ich komme klar. Viel… Erfolg.“

Leon bedankt sich und verlässt das Restaurant. In der Ubahnlinie U9 fragt er sich, an welchen Bildern wohl die anderen Fahrgäste malen.

Wann haben sie das letzte Mal bewusst den Pinsel in die Hand genommen?

Oder haben sie den Pinsel schon längst abgegeben? An ihren gemeinen Chef; an die Eltern, die sie nicht enttäuschen wollen oder reichen sie ihre Bilder an ihre Kinder weiter, die ihre Wünsche leben sollen.

Die Suche nach den Bergen

In seiner Wohnung angekommen blättert Leon sogleich durch seine Bilder und betrachtet die Initialen. Es sind wirklich Berge. Wie konnte er dies übersehen? Leon lacht auf. Er hat jahrelang ein Haus gemalt, obwohl er nur weg will.

Aber ist es nicht der Traum von jedem? Haus, Kind, Hund. Darauf haben sich doch alle stillschweigend geeinigt.

Jedoch spürt er, dass er anders ist. Ein Querdenker, der nicht in das Quadrat aus Mauersteinen passt. Er möchte frei sein und diese Berge sehen.

Er zückt seinen Pinsel. Zu seiner Überraschung sind weitere Farben in seiner Palette. Er tunkt den Pinsel in ein helles blau und malt diese Berge. Immer und immer wieder. Wie ein Besessener. Angefeuert von Begeisterung und der Aussicht auf Abenteuer.

Nach Stunden kommt ein See hinzu. Ein Rosengarten und eine kleine Hütte. Er ist erstaunt, was schon seit Jahren raus wollte. Hält er deswegen bei jeder Rose, die ihm am Straßenrand begegnet? Läuft er deswegen gerne am Ufer des Grunewaldsees entlang? Fühlt er sich deswegen von der Werbung für Skiklamotten angesprochen?

Etwas schlummert noch in ihm, das noch nicht auf dem Bild zu sehen ist. Leon schließt die Augen, taucht tief ab in die geheimnisvolle Welt seiner Gefühle.

Er tunkt den Pinsel in Orange. Dort zu den Füßen der Berge am türkisfarbenen See malt er einen Mann in einem orangenen Gewandt. Er sitzt im Lotussitz und seine Augen sind geschlossen.

In diesem Augenblick wünscht sich Leon, Frieden malen zu können. Es würde gut zu dem Mann passen.

Draußen ist es dunkel geworden. Die Sterne leuchten heute besonders hell. “Danke”, flüstert er ihnen zu.

Er ist kein weiser Mann, kein Prophet oder Gelehrter, aber er weiß nun, dass alle Fragen von ihnen beantwortet werden.

Nicht mit Kanonenschlag und Donnerhall, sondern sanft und leise, wie das Flüstern des Windes, durch einen Song im Radio oder einer alten Dame im Café.

Es drängt sich ihm ein weiteres Gefühl auf. Wenn das Universum selbst sich die Mühe macht und ihm antwortet; ihn leitet und begleitet, dann sollte er sein Bild ernst nehmen.

Morgen wird er Menschen sein Bild zeigen und nach den Bergen fragen. Er wird sie finden.

Koste es, was es wolle!


Den zweiten Teil gibt es hier.

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