Eine Geschichte zum Nachdenken: Leon, der Maler (Teil II)

Überblick

Eine Geschichte zum Nachdenken: Leon, der Maler (Teil II)

Wie faszinierend das Leben doch ist. Ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Gestern war Leon voller Tatendrang und Mut. Heute beunruhigt ihn der Gedanke sein Bild anderen zu zeigen.

Er läuft in der Wohnung auf und ab. “Es ist doch verrückt durch die Straßen zu laufen und Fremden so etwas Intimes zu zeigen. Die Meisten sind eh mit ich selbst beschäftigtund werden ihn abweisen oder noch schlimmer – sein Bild belächeln. Außerdem ist es unwahrscheinlich einen Mann zu finden, von dem er nur weiß, dass er gerne orange trägt…”

Plötzlich hört sich sein Plan kindisch an. Hat er nicht gestern noch den Entschluss gefasst sich nicht mehr von seinen Ängsten leiten zu lassen?

Vielleicht sollte er nur mal an die frische Luft gehen. Aber nicht gleich Menschen mit seinem Bild belästigen.

Wieder ein Kompromiss zwischen Licht und Schatten. Man könnte meinen, dass Leon genug von seinem grauen Leben hat, das mehr auf Vermeidung von Schmerz fußt, als auf Streben nach Glück.

Der kühle Wind peitscht ihm entgegen. Er muss seinen Mantelkragen aufstellen. Nach zehn Minuten in der Kälte, flüchtet er in eine Bäckerei. In dieser ließ er sich noch nie blicken.

Vielleicht hilft es ihm sich für Neues zu öffnen, wenn er klein anfängt und diesmal nicht in sein Stammcafé geht.

Leon lernt Hektor kennen

Die Bäckerei ist kaum besucht. Ein Hüne sitzt in der Ecke an einem Rundtisch. Nur mit einem karierten Hemd bekleidet und dichtem schwarzen Bart. Seine Arme ruhen auf dem Tisch. Er sitzt dort, als würde ihm die Bäckerei gehören und mit ihr alle ihre Gäste.

Wahrlich ein Alphatier, das schon oft der Natur getrotzt hat.

Leon spürt, dass gerade er ihm weiterhelfen kann. Hin- und hergerissen, wie Buridans Esel zwischen den Heuballen, steht er auf dem Fleck und weiß nicht, ob er sich an einen freien Tisch links, oder zu dem Rundtisch rechts setzten soll.

Der Mann hebt seine Tatze. Nicht um die Bedienung zu rufen, sondern um Leon einzuladen. Leon ist dankbar, dass ihm das Schicksal vom Esel erspart geblieben ist. Nun sieht es für die restlichen Gäste so aus, als wären sie Bekannte, die sich zum Frühstück treffen.

“Warum zur Hölle ist mir dies wichtig?”, denkt er sich und gesteht sich ein, dass er sich oft selbst nicht versteht.

Noch bevor Leon sich setzen kann, fragt ihn der Mann mit einer tiefen brummigen Stimme: „Woran habe ich erkannt, dass du dich zu mir setzen möchtest?“

Leon fühlt sich unwohl, da es anscheinend offensichtlich war, dass er zu ihm wollte .
„Ich weiß es nicht? An meinem Gesichtsausdruck?“

Der Mann lacht so laut, dass die Bedienung beinahe ihre Gläser fallen lässt. „Du hast ein Gesicht gemacht, wie ein Esel.“ Er schlägt Leon so hart auf die Schulter, dass er beinah auf dem Tisch landet.

Leon reibt sich an die Schulter. Nun kann er seinen Freunden erzählen, dass er einen Bärenangriff überlebt hat. “Woran haben Sie es erkannt?”, fragt er.

„Deine Fußspitzen zeigten zu mir. Achte immer auf die Füße der Menschen. Sie zeigen auf den Weg, der gegangen werden möchte.“

Leon schaut an sich hinunter und bemerkt, dass seine Füße zum Ausgang zeigen. Er schüttelt sie und stellt sie wieder auf den Boden.

„Mein Name ist Hektor. Was führt deine Füße zu mir?“ Sein Lachen ertönt wie ein Echo, aus der Tiefe seiner Brust.

Kann er Hektor trauen? Vielleicht ist dies die falsche Frage. Kann er seiner Intuition vertrauen?

Zögerlich greift er in seine Hosentasche und holt sein Bild heraus. Eigentlich ist es egal, in welche Tasche er greift. Er wird immer sein Bild herausziehen.

Hektor hebt seine buschigen Augenbrauen. Diesen Mut hätte er dem dürren Mann nicht zugetraut. Er nimmt das Bild entgegen und faltet es auf. Seine Augen haben schon vieles gesehen. Hyänen in der Savanne, die stillen Seen in Kanada und seine erste große Liebe in… Kaschmir…

Die Luft entweicht aus seinem Brustkorb. Seine Schultern fallen leicht zusammen. Er seufzt.

„Es sind die Berge Kaschmirs. Nie werde ich sie vergessen.“

Leon ahnt, dass Hektor mit ‚sie‘ nicht die Berge meint. Nun ist er es, der ihm mitfühlend auf die Schulter klopft.

Kaschmir. Er verbindet damit Pullover. Wo liegt Kaschmir? Er befürchtet, dass diese Berge nicht in Deutschland liegen. Warum konnte Hektor nicht einfach “Alpen” sagen?

Dieser verweilt derweil in Vergangenem.

„Sie war so schön. Ihre Haut zart und mandelbraun. Ihr Lächeln weiß, wie die schneebedeckten Bergspitzen.“ Hektor wischt sich seine Tränen aus dem Gesicht und schaut Leon an: „Hüte dich vor diesen Bergen. Sie nehmen dir alles, was du liebst.“

Leon schluckt bei diesen Worten. Wenn selbst dieser Gladiator sie fürchtet, was kann dann ein Löwenfutter wie er den Bergen entgegensetzen?

Hektor fährt fort: „Fliege nach Neu-Dehli. Von dort mit dem Zug nach Kaschmir. Die Inder sind freundliche Menschen. Sie werden dir helfen.“

Leon versteht Hektor nicht mehr. Seine Gefühle scheinen ihn zu verwirren.

„Aber du hast mich doch gerade noch gewarnt dort hinzugehen!“

Hektor richtet sich wieder auf. Seine Brust füllt sich mit Leben. Danach fixiert er Leon.

„Sehr oft hat man mich gewarnt. Mir wurde gesagt, dass meine Bilder unmöglich sind. Du möchtest den Amazonas entlang paddeln? Träumer, nannten sie mich. Ich wäre viel zu groß für das Ruderboot und würde von Krokodilen gefressen werden. Du möchtest Tibet sehen? Sie fragten mich herausfordernd, wie ich die monatelange Reise finanzieren wollte. Selbst mit dem Motorrad durch Vietnam zu fahren, fanden sie verrückt.“

Ein siegreiches Lächeln hebt seinen Vollbart. So viel hat er erreicht, obwohl er oft gegen den Wind gesegelt ist.

„Du musst dein Bild verteidigen.“ Er tippt auf Leons Berge, die noch immer auf dem Tisch liegen. „Lass dir von niemandem einreden – auch nicht von mir – dass dein Bild unmöglich ist. Beschütze es“.

Leons Herz hört für einen Moment auf zu schlagen. Es ist die eine Sache, ein Bild zu malen. Eine ganz andere, ihm auch zu folgen. Insbesondere, wenn man dafür bis ans andere Ende der Welt reisen muss…

Noch hat er die Möglichkeit einfach alles zu vergessen. Die Verdrängung zu wählen. Mehr Bier, mehr Fernsehen, mehr Schokolade. Hört sich nicht so schlimm an.

Die liebevolle alte Dame erscheint ihm vor seinem inneren Auge. Nein, er will nicht den Weg der Sicherheit gehen. Denn dieser führt mit Sicherheit zur Reue. Ein Ort, an dem er nicht seine letzten Jahre verbringen möchte.

Leon bedankt sich und steht auf.

Als Leon das Café verlässt, holt Hektor sein Bild heraus. Es zeigt wieder ein weit entferntes Land. Ein weiteres verrücktes Abenteuer. Er dreht es um, nimmt seinen Pinsel aus der Umhängetasche und malt: ein Quadrat, ein Dreieck darüber. Ein Hund, Garten und eine Frau an seiner Seite.

Es ist nicht perfekt, doch es wird mit jedem mal besser. Hektor hat genug Abenteuer erlebt. Er sehnt sich nach Wärme und der Stabilität einer Familie.

Anerkennend schaut er auf die Stelle, an der Leon gerade noch wie ein Esel stand.

“Mutig.” brummt er in seinen Bart.

Es sollte mehr Menschen geben, die ihre Bilder miteinander teilen.

Warum war er nur so naiv?

Leon macht sich derweil auf den Weg nach Hause. Seine Schläfen pochen. Er spürt ein Stechen in der Seite. Die Angst spricht aus seinem Körper. Er versucht sie zu ignorieren, trabt die Treppe zu seiner Wohnung hinauf und greift zum Telefon.

Er wählt die Nummer von Patrick.

Ring. “Macht er wirklich das Richtige?” Ring. “Vielleicht sollte er doch einfach bleiben und vergessen”. Ring. “Das Schicksal hat entschieden. Er geht nicht ran.”

“Hallo?”

“Hi Patrick, ich bins Leon. Ich muss mit dir reden.”

Es ist dieser verheißungsvolle Satz, den jeder aufhorchen lässt.

“Was ist? Du hörst dich krank an. Geht es dir nicht gut?” fragt Patrick.
“Doch, doch… aber ich brauche eine Pause vom Restaurant. Und ich weiß nicht, wie lange. Ich fliege heute noch nach Indien”

“WAS?!” Patrick stockt der Atem.

“Aber was soll ich dann machen? Ich kann doch so schnell keinen anderen Kellner finden. Bitte, Leon. Sei vernünftig. Es ist nur eine Phase in der du steckst. Das geht vorbei. Wirklich. Da kannst du jeden fragen.”

Leon sagt keinen Ton. Patrick spricht das aus, was er befürchtet. Dass es eben nur eine Phase ist. Ein Anflug jugendlichen Leichtsinns. Vielleicht hat er recht… aber sollte er es nicht gerade deswegen machen?

Deutet eine Idee, die einen kindisch vorkommt, nicht genau auf den richtigen Weg hin? Ist nicht ein Einfall, eine Vision, durch die man sich jünger fühlt, genau das was Leon in seinem Leben vermisst?

“Ja, Patrick, du hast Recht. Aber genau deswegen werde ich es tun. Es tut mir Leid. Ich bin mir sicher, der Chef findet eine Lösung.”

Patrick legt den Hörer auf.

Er weiß, dass Leon Recht hat. Eine Ersatzperson findet man schnell.

Es geht auch nicht um Leon, sondern um ihn. Obwohl er Leon alles auf der Welt gönnt, wäre es ihm lieber, wenn er nicht seinem Bild folgen würde. Damit würde ihm sein Neid erspart bleiben.

Nie ist er neidisch auf die reichen Gäste. Mit ihren schicken Anzügen und den schönen Frauen im Arm. Sie sind zu weit weg. Doch Leon… Patrick begreift. Er ist auf ihn neidisch, weil er weiß, dass auch er diese Entscheidung treffen könnte. Das Leons Freiheit auch in seiner Reichweite ist…

Leon legt derweil enttäuscht den Hörer zur Seite. Dies hätte er Patrick nicht zugetraut. Sieht er denn nicht, dass er seinem Bild folgen muss? Er hätte ihm die alte Dame vorstellen sollen… Am Schluss wären sie zusammen nach Indien gesegelt.

Mit schwerem Herzen packt er seine Sachen und fährt direkt zum Flughafen.

„Es wird sich schon alles fügen“, denkt sich Leon. An etwas anderes darf er nicht denken, sonst würde er auf der Stelle umkehren.

Am Flughafenschalter erfährt er, dass heute noch eine Maschine nach Neu-Delhi fliegt. Sie kostet Leon all sein Erspartes.

Die Minuten vor dem Start des Flugzeugs sind für Leon die schlimmsten. Heftige Ängste überkommen ihn. Was werden die anderen denken? Stempeln sie ihn ab, als naiven Träumer? Als Freigeist für den keine Regeln gelten?

Leon schließt die Augen und stirbt. Alle Bänder, die ihn abhalten frei zu sein, schneidet er in Gedanken durch. Das Band zu seinen Freunden. Zu seiner Arbeit. Zu seinem Bedürfnis nach Sicherheit. Er löst sich von seinen Wünschen, wie die Reifen des Flugzeugs von der Startbahn.

Das Flugzeug durchbricht die Wolkendecke und die Sonne beglückwünscht Leon zu seinem mutigen Schritt.

Die Sonnenstrahlen kitzeln ihn und erinnern ihn daran, dass alles nur ein Spiel ist. „Wach auf, Leon.“ sagen sie ihm. „Du kannst nicht verlieren, in einem Spiel, das auf Liebe gebaut ist.“

Er versteht die Botschaft noch nicht. Doch, er muss lächeln. Vielleicht ist es leichter als gedacht. Vielleicht ist das Leben generell leichter als man denkt. Vielleicht sind es nur Gedanken, die das Leben schwer machen!

Die Zeit vergeht wie im Flug und die Maschine landet in Neu-Delhi.

Alles verloren, alles gewonnen

Angespannt von den vielen Stunden des Sitzens und dem schlechten Essen, wartet er am Fließband ungeduldig auf sein Gepäck.

Einer nach dem anderen fischt seinen Koffer vom Fließband. Nur Leon und seine Verzweiflung bleiben übrig. In der weiten Halle ist nur noch das Quietschen des Gepäckbandes zu hören. Ungläubig starrt er darauf, bis es stehen bleibt.

All sein weltlicher Besitz ist in dieser Tasche… Kleidung, Reisepass, Medikamente, Waschtasche und Geld (Er hielt es für sicher, dieses in eine Innentasche zu stecken, anstatt in sein Handgepäck). Müde schleppt er sich zum Lost & Found der Gepäckannahme.

Der dort arbeitende Inder gibt ihm mit einem aufgesetztem Lächeln zu verstehen, dass er nicht wüsste, wo sein Gepäckstück ist. Sie werden sich aber bei ihm melden, wenn es auftaucht. In welchem Hotel kann man ihn erreichen?

Leon hat kein Hotel gebucht. Er schaut mit dunkler Vorahnung in seinen Geldbeutel. Nur zwei Scheine verheißen ihm eine unbequeme Nacht in einem Zimmer mit zwanzig anderen, schnarchenden Zimmergenossen – wenn er Glück hat.

Zu schwach, um sich aufzuregen, verlässt er den Flughafen. Ein Schwarm von indischen Taxifahrer belagert ihn. „Yes, bike, bike. Really cheap.“ Jedes Nein von Leon verhärtet seine Brust und lässt eine dicke Glaswand hochfahren, die ihn von allem trennt.

Die Sonne streichelt nun nicht mehr, sie sticht und brennt.

Er läuft los. Verwirrt und niedergeschlagen von der Fremde. Die Straßen sind voll von hupenden Autos, Motor- und Fahrradrikschas. Er sieht kaum Weiße. Bettler sitzen auf den dreckigen Straßen und recken ihm die Hand entgegen. Wenn sie wüssten, dass er im Moment genauso wenig besitzt, wie sie…

Die Bewohner der Stadt tragen einen Mundschutz und wirken dadurch noch befremdlicher.

Er bleibt mitten auf dem Fußgängerweg stehen und legt seinen Kopf in seine Hände. Seine Augen füllen sich mit Tränen im Angesicht seiner verlorenen Lage.

„Warum habe ich mich nur zu so einer Dummheit bewegen lassen? Wie soll ich jemals nach Kaschmir kommen, wenn ich es nicht mal schaffe, den heutigen Tag zu überstehen?“

Eine Stimme erklingt in seinem Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Gib alles auf und vertraue!“ Leon erschrickt. Verwundert schaut er um sich. Doch es ist kein Mann zu sehen, der seine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet , geschweige denn zu ihm gesprochen hat.

Er ist der einzig Ruhende in der menschlichen Ameisenstraße.

Verdutzt läuft er ein paar Meter. Dabei schaut er immer wieder um sich, als würde er verfolgt werden. Er grübelt über die Worte nach. „Gib alles auf.” Hat er dies nicht schon längst?

Das Mädchen, dass ihn nie vergessen wird

In der Seitenstraße gibt es Streetfood. Hierfür dürfte sein Geld ausreichen, um danach auch noch eine Unterkunft bezahlen zu können.

Zu seinen Füßen spielt ein kleines Mädchen mit ein paar Murmeln. Sie trägt ein Kleid, das sie oder ihre Eltern aus einem Container gezogen haben müssen. Es ist dreckig und zerrissen. Sie hat schöne, lange schwarze Haare, die fettig aneinander kleben.

Sie schaut von seinen Schuhe hinauf. Wischt sich die Haare aus dem Gesicht und streckt automatisch ihre Finger nach ihm aus. Eine Geste, die sie so oft beobachtet.

Der Mann kniet sich vor ihr nieder und legt zwei Scheine in ihre offene Hand. Sie versteht nicht, warum alle diese Scheine so mögen. Jedoch verschließt sie gut ihre Hand und läuft los.

Vorbei an den Mülltonnen. Durch die Enge der Gasse. Durch das kleine Loch im Zaun, in die Arme ihrer Großmutter. Stolz überreicht sie die Papiere. An diesem Tag hat sie zum ersten Mal Gulab Jamun, Teigbällchen mit Zuckersirup gegessen.

Bild©Yarowslad

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