„Wo spürst du dein Seinszentrum? Viele glauben, sie wüssten die Antwort, doch sind überrascht, wenn sie sie wirklich in sich spüren.“ Diese Frage kommt von Prof. Ott auf dem Kongress Meditation und Wissenschaft 2018.
Wie so oft sitze ich mit geschlossenen Augen auf der Stuhlkante und fröne meiner Lieblingsbeschäftigung: Einfach sein. Nichts erwarten, nichts tun, nichts hoffen, sondern nur sitzen. Springe ich auf den Zug oder den fliegenden Teppich meiner Gedanken, halte ich inne und erinnere mich daran, dass ich nur sitze.
Danach geht es weiter in den Ruderclub Tegel, um bei Vollbass und Techno eine halbe Stunde auf dem Ruderergometer Zug um Zug mehr zu stöhnen und die Zähne zusammenzubeißen und unter der kalten Dusche zu schreien.
Ein ganz normaler Morgen eines spirituellen Hippies.
Mit der U6 fahre ich zu Haltestelle Französische Straße. Gleich dort, mitten in Berlin, findet der fünfte Kongress zur Meditation und Wissenschaft statt.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Meditation belächelt wurde. Meditation ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Es braucht ja auch nur wenig: Ein Meditationssack, flauschige Meditationssocken, ein T-Shirt das sagt, dass man meditiert, fünf bis zehn Gurus, denen man im Instagram-Feed folgt, ein Meditations-Journal, Räucherstäbchen Nepal- Sternenhimmel, Bose-Kopfhörer und drei Meditations-apps auf dem Handy, plus Binaurale Beats. Es war noch nie so einfach, zu sein und der zu werden, der man ist.
Die unsichtbare Hand des Marktes klopft uns derweil väterlich-anerkennend auf die Schultern, dass wir uns um unsere spirituelle Entwicklung kümmern.
Bevor die Konferenz beginnt, besuche ich noch meinen Freund Dussmann. In diesem Buchladen fühlt sich jeder Tag wie Weihnachten an.
Auch dort ist Spiritualität in der Mitte angekommen und zwar im zweiten Stock. Die spirituellen und esoterischen Buchreihen strecken und schlängeln sich immer weiter. Ich kann mich noch daran erinnern, dass es vor zehn Jahren ein paar Bücher zu dem Thema gab und zwar in der dunklen Ecke voller Spinnweben.
Heutzutage glänzt Spiritualität mit Versprechen, die ich nicht glaube, aber gerne glauben würde. Jedes dieser Bücher ist ein weiteres Puzzleteil, um mehr zu verstehen. Wer bin ich, wenn ich nicht denke? Was ist das „Ich“? Kann ich das Ich überhaupt verbessern, optimieren oder heilen?
Diese Frage stellt auch Alexander Poraj mit einer Leidenschaft, die man einem Zen-Meister und spirituellem Leiter im Benediktushof nicht zutrauen würde. Der Saal schweigt. Frau Dr. Tatjana Schnell führt zögerlich das Mikrofon zum Mund. Prof. Dr. Dr. phil. Harald Walach drückt derweil die Lippen zusammen. Wir sind gespannt, wie dieses Symposium aus intellektuellen Schwergewichten diese Frage beantwortet.
Jedoch weiß ich davon noch nichts, denn ich befinde mich noch im Dussman und greife zur Bhagavad Gita. In dieser vollgeladenen Zeit, in der wir bombardiert werden von Heilsversprechen, sehne ich mich nach Qualität.
Aber gut, was soll ich sagen? Ich habe ein Buch veröffentlicht, das dir verspricht, dein Denken zum besten Freund zu machen. Meinem damaligen Prof würden die Haare zu Berge stehen und vielleicht zählt er auch mich zu den gefallenen Motivationsgurus.
Ich bezahle für zweitausend Jahre altes Wissen 9,95 € und laufe im Regen zur Konferenz. Dort preisen nicht Yogis, sondern Profs. Ich erspähe statt orangenen Sannyasin graue Sakkos. Keine Gebetsketten, sondern Brillengestelle. Kein Punkt auf der Stirn, dafür ein Dr. vor dem Namen.
Aber gut, was weiß ich schon? Auch ich trage ein Armband, das von einem Heiligen geweiht wurde und mir als Geschenk für fünfzehn Tage Vipassana Meditation überreicht wurde. Es gibt bestimmt viele Menschen hier, die sehr viel spiritueller sind, als sie sich zeigen.
Genauso geht es Michael Knauf von der Lufthansa, Andreas Clausen von Beiersdorf und Valerie Sainot von der EZB. Sie bringen Mindfulness in ihre Unternehmen.
Am Anfang wurden sie belächelt, aber sie erfuhren selbst die Vorteile der Meditation und schafften einen Raum für diese Praktiken und generell Stille. Frau Sainot z. B. sagte, dass wir Stimmigkeit nur in unserem Körper finden können.
Ich bin überrascht, dass solch tiefe Geschöpfe für die EZB arbeiten. Aber es gibt einen Bedarf. 30 bis 50 Prozent der Zeit verbringen Unternehmen damit, emotionale Probleme in Teams zu lösen, sagt Herr Tamdjidi. Denn: „Wer sich selbst nicht spürt, der spürt auch nicht andere“.
Ich glaube, die meisten Menschen können ihre Bedürfnisse nicht erfassen, geschweige denn artikulieren. Das einzige, was ihnen übrig bleibt, ist wütend darüber zu sein, dass sie verletzt wurden. So entsteht passiv-aggressives, manipulatives Verhalten und Sätze wie: „Du hörst mir nie zu.“
Generell war ich verwundert, dass jene konservativen Unternehmen schon so weit sind.
Ich meine, mit Meditation sägen sie doch am eigenen Ast. Wer braucht denn noch eine Nivea-Creme, wenn man innerlich strahlt? Wer braucht noch Scheine, wenn der Heiligenschein über einem leuchtet? Wer braucht noch die Lufthansa, wenn man Astral reisen kann?
O.k. kommen wir wieder zum Boden der Tatsachen zurück. Denn was hier allen wichtig ist, ist die Definition von Achtsamkeit. Denn Achtsamkeit ist kein Wuhu, nichts Heiliges, nicht einmal aufregend, sondern – wie es sich für einen Wissenschaftler gehört, der das lieblose Getriebe der kosmischen Maschine studiert – vollkommen neutral: Achtsamkeit bedeutet, die Welt so zu erfassen, wie sie ist.
(ein großartiger Talk von Yuval Noah Harari über seine Vipassana Erfahrung und Definition)
Nun kommen Sie sich als Leser bestimmt wie ein Mann vor, den man fragt, ob er gut Autofahren könne. Selbstverständlich erfasse ich die Welt so, wie sie ist. Auf jeden Fall kann ich gut Autofahren.
Jedoch erfassen wir nur selten die Welt, wie sie ist. Wir leben in eigenen und gesellschaftlichen Phantasien. Verstehen Sie z. B. wirklich, dass es keinen Montag gibt? Oder wenn wir von Unternehmen, wie Beiersdorf reden, dies nur Phantasie in unseren Köpfen ist? Ist Ihnen bewusst, dass die Stimme in Ihnen nicht Sie selbst sind? Wenn ja, warum folgen Sie dieser dann wie ein Labrador?
Sagt die Stimme, dass ein Kaffee jetzt passen würde, stehen sie auf und trinken einen Kaffee. Vielleicht rät die Stimme auch, nach der Arbeit lieber Fernsehen zu schauen, als Sport zu machen. Auch das machen Sie. Oder lieber die kostbare Lebenszeit im Büro zu verschwenden, weil dies sicher ist? Geht klar. Wären Sie achtsam, würden Sie Ihre innere Stimme erziehen und sie wohlwollender machen. Wie die Mutter oder der Vater, die Sie nie hatten, und sich Selbstmitgefühl schenken. Dies rät Dr. Christine Brähler.
Apropos, die Welt so erfassen wie sie ist. Eine schockierende Erkenntnis teilt Prof Haynes von der Berliner Charité mit: „Nach 27 Jahren Erforschung des Gehirns wissen wir: Es gibt kein stilles Kämmerchen, in dem wir uns objektiv über uns selbst Gedanken machen können.“ Alle Gedanken hinterlassen Brotkrümel im Gehirn.
Es gibt keinen denkenden, reflektierenden Geist, der sich über das Gehirn erhebt. Aber gibt es einen stillen Beobachter, der sich über das Gehirn erhebt? Der Kundige, wie es in der Bhagavad Gita auf S. 65 steht? Der Teil in uns, der nie erkranken kann?
Darüber schweigt er. Wir wollen auch nicht ins Esoterische abdriften.
Dies ist der große Albtraum jedes Wissenschaftlers: Als esoterisch gebrandmarkt zu werden. Deswegen sind die Redner auf der Hut. Sie wägen ihre Worte ab und ich spüre ihre Angst, ihre Hochglanzreputation zu verlieren. Wir wissen, dass das Gehirn ein „Ich“ konstruiert, das uns ein Gefühl von Kontinuität und Stabilität verleiht. Jeder Gedanke taucht dabei zufällig und durcheinander auf der Bildschirmfläche des Bewusstseins auf – aber bitte keine esoterischen Gedanken.
Wären sie achtsam, würden sie keine Angst vor einem Klangschalen-image haben, sondern es entlarven und ihre persönliche Wahrheit sprechen. Dies wäre der Beginn, über wirklich brisante Themen zu reden: Der Konsum von psychedelischen Drogen wie Ayahuasca und LSD. Die Erkenntnisse der Parapsychologie und wissenschaftliche Untersuchungen von Telepathie, Fernwahrnehmung und Synchronizitäten. Zu guter Letzt: Bewusste, achtsame Sexualität.
Diese Vorsicht spüre ich als Zuhörer und ist in meinen Augen tragisch. Ich empfinde eine Dringlichkeit, diese Themen zu beleuchten und Menschen zu führen. Ansonsten machen es jene, die zwar weniger Grips, aber dafür einen lauteren Mund haben.
Jedoch kommt im letzten Festvortrag beides zusammen. Ein scharfer Geist, ein glühendes Herz und ein lauter Mund.
Prof. Gert Scobel schließt das Wochenende ab mit einer Rede, die so gewaltig und redegewandt ist, dass mir immer noch der Kopf brummt (jedoch kann es auch an den Binauralen Beats liegen, die ich gerade anhöre und die nach Dr. Juergen Fell nur einen unzureichend statistisch erwiesenen Effekt haben. Ich hingegen schwöre auf diese!).
Zu meiner Schande muss ich gestehen (aber was ist schon das „Ich“?), dass ich den Moderator und Grimme-Preis-Träger nicht kannte. Ich zähle nun mal zu denen, die keinen Fernseher besitzen (hört sich intelligenter an, als es ist. Hätte er eine Netflix-Serie, wäre er mir vertraut).
Während seiner gedanklichen Ergüsse, die mich nicht sanft plätschernd verzaubern, sondern eher wie eine Maschinengewehrsalbe auf mich einhämmern, fühle ich einen Weckruf.
Meditation und Achtsamkeit sind weit mehr als nur ein paar nette Effekte, wie mehr Konzentration, weniger Stress und mehr Entspannung. Er warnt, dass wir Achtsamkeit nicht downsizen dürfen.
Während Scobel redet, fühle ich eine immer stärkere Verpflichtung, über Meditation zu schreiben und zu sprechen. Keine Angst zu haben, meine Erfahrung nackt zu zeigen. Diese Momente der Stille, in der wahre Perfektion herrscht, in der das Ich schwindet, in denen ich danach instinktiv das Bedürfnis habe, die Hände zu falten und sie im Alltag für andere Menschen mehr zu öffnen.
Diese Dinge erklären Neurowissenschaftler nicht und wollen es auch nicht. Die meisten Wissenschaftler schweigen heute und auch in Zukunft über die Ich-losigkeit. Daher warnt er: „Vertrauen sie nicht den Neurowissenschaften“. Dies geht einher mit Dr. med. Friederike Boissevain, die in ihrer Rede sagte: „Wissenschaft kann viel, aber nicht die Probleme unseres Lebens lösen“.
Denn Meditation und Achtsamkeit sind mehr als Selbstoptimierung. Sie sind heilig. Noch so ein Wort, das ich in den zwei Tagen kaum gehört habe.
Fünf Erkenntnisse aus der Meditation und Wissenschaft Konferenz
1) 35% der Gesellschaft befinden sich in einer existentiellen Indifferenz.
Existentielle Indifferenz bedeutet, dass man keine Sinnerfüllung erlebt, aber auch keine Sinnkrise. Tony Robbins würde vom „No man’s Land“ reden. Ein Zustand, indem man nicht glücklich ist, aber es einem auch nicht so schlecht ergeht, um etwas zu ändern.
Gerade männliche Jugendliche bis zu 26 Jahren leiden unter existentieller Indifferenz (50 %). Mein Bruder zählt(e) dazu und das ist einer der Gründe, warum ich das Lebensrestaurant nun auch als Kurs kreiert habe.
In diesem möchte ich auch Jugendliche zu klaren Zielen und zu mehr Kraft führen.
Wenn dies auf eines deiner Familienmitglieder zutrifft, kannst du mir gerne eine E-Mail schreiben.
2) Für andere Beten, um ihre Gesundheit zu erhöhen, hat keinen statistisch nachgewiesenen Effekt.
In drei Kontrollgruppen schnitt sogar jene Gruppe, für die gebetet wurde, am Schlechtesten ab.
Aber: In meinem Buch „Freigeister leben leichter“ gehe ich auf das Gebet ein und glaube, dass die Meisten „falsch“ beten. Sie konzentrieren sich auf das, was nicht da ist und verstärken damit Mangel. Wie für die Kranken gebetet wurde, kam in dem Vortrag nicht zur Sprache.
3) Haben wir einen freien Willen? Anstatt bipolar Ja oder Nein zu antworten, sagt Prof. Haynes „es kommt darauf an“.
Erste Freiheit: Sich von körperlicher Bedingtheit freimachen. Wie in dem Text erklärt, gibt es keinen Gedanken außerhalb des Gehirns.
Zweite Freiheit: Anders handeln können. Bei selbst getakteten Entscheidungen (jene, in denen wir Zeit zum Überlegen haben) erfassen Hirnscans eine Entscheidung, die uns teilweise erst sieben Sekunden später erst bewusst ist.
Dritte Freiheit: Der innere Autopilot. Auch eher Nein. Es ist sehr schwer, Automatismen zu ändern. Denke bitte an Autofahren und tausche dann Bremse, Gas und Kupplung in eine andere Reihenfolge. Innerhalb von fünf Minuten würden wir einen Unfall bauen. Aber es ist möglich, dies zu ändern.
Ein witziges und interessantes Video über einen Ingenieur, der Fahrradfahren verlernt hat, findest du hier.
Vierte Freiheit: Willensstärke und Kontrolle. Eher ja. Wir haben die Fähigkeit, dem Wunsch, Impulse wie Nutella zu löffeln, zu widerstehen. Dies muss natürlich trainiert werden. In unserer Gesellschaft, in der die schnelle Belohnung gepriesen wird, eine schwierige Sache.
Jedoch glaube ich, dass jene Menschen, die „delayed gratification“ lernen, zu den Gewinnern zählen. Sie opfern ihre Impulse zugunsten ihrer langfristigen Ziele und entwickeln Kontrolle.
Fünfte Freiheit: Gründe und Motive. Wir können nach Haynes wählen, welchen Motiven wir folgen. Ich glaube jedoch, dass dies eng mit unserem Umfeld zusammenhängt, was wir möchten und was wir uns wünschen.
Über den freien Willen zu schreiben, wird ein eigener Artikel, an dem ich mich – ehrlich gesagt – noch nicht heranwage. Wenn du diesen Artikel wünschst, dann schreibe dies gerne in den Kommentar.
4) Das Verdauungssystem ist das älteste unserer Nervensysteme.
Unsere Darmbesiedelung hat Auswirkung auf unser Gehirn und die Dopaminproduktion (Glückshormon). Bisher wird der Darm ausschließlich mit Pharmaka behandelt.
Prof. Langhorst hat in „der Studie seines Lebens“ herausgefunden, dass Yoga und Meditation einen signifikant positiven Effekt auf die Darmgesundheit haben. Ja, durch Mindfulness kann man die Entzündungen eines Reizdarms senken.
5) „Krebserkrankte Patienten behandeln wir zu lange und zu viel“.
In diesem ungefähren Wortlaut spricht Dr. Boissevain von ihrer Arbeit und erhält lautstarken Applaus.
Wenn dich Mindfulness interessiert, lege ich dir mein Buch ans Herz.